Salzkruste

Mission "Salzkruste" oder "Das beste Rolltraining der Welt" - Muriwai Beach - September 2004

Nordinsel Neuseelands, eine Autostunde von Auckland, Westküste, Muriwai Beach

Es ist Ende September. Ein wechselhafter Tag im Frühjahr mit dahinjagenden Wolken und gelegentlichen Schauern, die sich mit blauen Sonnenlöchern abwechseln, hat Anna, Guido und mich an den Strand gelockt, den wir uns mit ein paar Surfern und etlichen Kitesurfern brüderlich teilen. Schon bei der Ankunft am Strand ist uns sofort klar, dass es nicht der ideale Tag zum Brandungspaddeln ist. Der Wind steht zwar auf die Küste zu, aber wir haben ablaufend Wasser und alles ist sehr "messy", das heißt die Wellen kommen sehr unregelmäsßg und chaotisch. Wir machen uns nichts draus und ziehen uns um. Guido paddelt schnurstracks raus zu den großen Brechern und wir vermuten aufgrund gelegentlichen Sichtbarwerdens seiner Bootsenden, dass er eine Menge Spaß da hinten hat; er kann auf sich selbst aufpassen. Anna hat außer einer Polosession noch nie gepaddelt und mit dem heutigen Tag vielleicht nicht gerade die idealen Einstiegsbedingungen, sondern eher die idealen Ausstiegsbedingungen. Macht aber nix; sie lässt sich von der ersten wieder rauslaufenden Welle munter hundert Meter mit rausnehmen und paddelt über eine Handvoll Wellen, die ihr entgegenkommen, bevor sie sich das erste mal nach dem Ufer umsieht und beschließt umzudrehen. Entgegen all meinen Erwartungen - sie kann bisher weder rollen noch richtig stützen - kommt sie kurz darauf munter grinsend vor meine Füsse gesurft und ich stelle mir deprimiert die Frage, ob ich nicht vielleicht besser auf Schach umsteigen sollte. Im Laufe der nächsten Stunde wiederholt sie das ganze noch ein paarmal, und natürlich schwimmt sie auch etliche male, aber die Brandung spült letztenendes eh alles wieder ans Ufer und so kommt außer langen Armen vom Bootausleeren und Sand zwischen den Zähnen kein nennenswerter Schaden dabei raus.

Die Tatsache, dass Guido sich eine ganze Zeit in den Vier-Meter-Brechern vergnügt, und die Tatsache, dass Anna als Anfängerin sich unter den heutigen schwierigen Bedingungen aufs Wasser getraut und da sogar einige Surfs hinbekommen hat, mag der geneigte Leser als Hinweis darauf verstehen, dass die folgenden Ereignisse aus rein subjektiver Sicht geschildert sind und die Intensität des Erlebten zu einem großen Teil auf der Mittelmäßigkeit des paddeltechnischen Niveaus des sogenannten Autors beruht. Nichtsdestotrotz möge ein jeder sich dazu bewogen fühlen, sich mit ein paar Chaoten gleichen Schlages zum nächsten Strand aufzumachen und sich dies Vergnügen einmal selbst anzutun; es ist sehr ähnlich wie Wildwasserpaddeln, und doch auch wieder völlig anders. Und vor allem: Was den Kletterern die Kletterhalle, ist den Paddlern der Surfstrand - jeder kann so lange und so weit rauspaddeln wie er will und sich die Größe seiner Wellen selbst aussuchen, und das Auto und ergo Fressalien und Flüssignahrung sind nie weit weg. Absolut empfehlenswert, wenn der nächste Bach mal wieder zu weit weg oder gerade zu trocken ist.

Während Anna auf das Wiederschrumpfen ihrer Arme wartet, gehen Guido und ich nochmal auf's Wasser. Ich setze mich ins Boot und warte auf eine große Welle, um mit ihrem rauslaufenden Wasser mitzupaddeln. Dann teste ich ein bisschen an, wo heute welche Wellen wie gehen und wo der kleine Rip nach draußen zieht, den man besser vermeidet - es sei denn, man will ganz weit raus - und nachdem ich dann den für mich perfekten Punkt finde, mach ich ein paar nette aber noch recht kontrollierte und darum nicht übermäßig spannende Surfs zum warm werden. Ich bin mir noch nicht so sicher, ob ich's heute wirklich richtig krachen lassen will, da nimmt mir das Meer die Entscheidung ab. Ich liege an meinem Spot, warte auf die richtige Welle und paddle über alle, die nicht gut aussehen, drüber. Da kommt dann eine, von der ich denke "cool, die ist gut, etwas mehr als einen Meter hoch, grün, fängt gerade an sich zu brechen, die nehm ich"; dann seh ich eine, die danach kommt und schneller als die erste läuft. Blitzschnell wird mir klar "ups, die kommen gleichzeitig und aufeinandergestapelt hier an..." Ich dreh mich blitzschnell um und stelle mich auf einen heftigen Ritt ein. Dabei leg ich mich immer etwas schräg nach rechts zeigend, denn wenn die Welle mich aufhebt, während ich gerade liege, bohrt meist der Bug ein und es wird ein Überschlag. Wenn dann die Welle kommt, lass ich mich von schräg seitlich rechts treffen und mach gleichzeitig einen Bogenschlag rechts, um das totale Qürschlagen zu verhindern, und wenn ich dann von der Welle aufgepickt worden bin und wieder vor ihr surfe, drehe ich mich vor dem Schaumberg gerade. Erwartungsvoll blicke ich also über meine rechte Schulter den beiden Wellen entgegen, zehn Meter bevor sie bei mir sind haben sich die beiden Wellen zu einer einzigen großen gestapelt, und in dem Moment sagt eine dritte Welle, die sich zusätzlich heimlich von hinten auf die anderen beiden gestapelt hat, "kukuck" zu mir und guckt von oben auf mich herunter. Aaarrrrghhh!!! Das macht dann so ungefähr zweieinhalb Meter! Das war weder geplant noch gewünscht und ist ungefähr einen satten Meter höher als ich normalerweise kontrollieren kann. Tollerweise hab ich mich von dem Anblick hypnotisieren lassen und bin von Wind und Wasser umgedreht worden, ich liege jetzt fast frontal zur Welle und hab null zeit mehr mich wieder umzudrehen. Na klasse. Ich entscheide mich für "Norwegian Style", paddle mit ein paar heftigen Schlägen der Welle entgegen, lege mich ganz nach vorne aufs Deck und greife mit dem Paddel weit vorne unten in die Welle, um vielleicht noch drüber- oder durchzukommen, auch wenn das ein irrwitzig-illusorischer Gedanke ist. Ich schaffe es die ersten eineinhalb Meter die grüne Wand hoch und denke noch "wenn ich..." KA- HUUMMMMMMM das Meer erstickt jeden weiteren Gedanken ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Als es wieder hell wird blicke ich über meine Schulter hinter mich richtung Strand und sehe, dass ich es fast geschafft habe; ich sitze gut zwei Meter über dem Wasser oben auf dem Scheitelpunkt der Welle, aber ich fange gerade wieder an rückwärts vor selbige zu fallen.... tja das wird dann wohl ein Rückwärtsloop. Oder auch zwei. Ich hole noch einmal tief Luft, kippe nach hinten und falle in den großen Lockenwickler, ich sehe nur weiß und es braust und rauscht und wummert... eigenartigerweise fühlt es sich auch nach einigen Sekunden immer noch nicht "überkopf" an, und noch viel eigenartigererweise kann ich zwar null sehen, aber ich kann atmen! Ich muss kurz an Patrick denken, der mal gesagt hat, dass er auch unter Wasser viel atmet; vielleicht bin ich hier seinem Geheimnis auf der Spur. In dem Moment, in dem ich erkenne, dass ich mich unter dem Schaumberg in einem ziemlich irren Rückwärtssurf befinde, den ich mich freiwillig nie getraut hätte, und dass mein Kopf wohl in einer kleinen "Tube" ist und ich darum atmen kann, fängt mein Heck dann doch etwas vom Grün ein, auf dem ich unter dem ganzen Schaum scheinbar gleite - und ab geht der Bug gen Himmel! Einen halben unverdienten Rückwärts-Cartwheel und eine verzweifelte linke Stütze später bin ich unglaublicherweise immer noch mehr oder weniger senkrecht, surfe jetzt scheinbar vorwärts, kann immer noch nichts sehen, allerdings jetzt auch nicht mehr atmen, und mein Bug dreht seitwärts nach links weg. Kräftig den Kopf in die Welle stecken, heftigst kanten und einen Konterschlag links, zack bin ich wieder rückwärts, das ist definitiv besser als quer. Dann gucke ich plötzlich oben aus dem ganzen Chaos raus, dreh wieder seitwärts und lach und lach und lach mich fast kringelig, weil ich es nicht fassen kann, dass ich immer noch im Boot sitze und kein einziges mal gerollt habe. Dabei geh ich dann fast doch noch baden, weil ich die immer noch recht kräftige Welle vergessen und nicht ernstgenommen habe, in der ich stecke. Ich lach auch den drei Surfern entgegen, die nebeineinander bis zur Brust im Wasser stehen und auf die ich sehr flott und quer zu surfe, sie lachen mit mir und freuen sich und ich krieg's in dem Lachkrampf gerade noch gebacken, das Boot wieder geradezudrehen und das Paddel längs zu nehmen, bevor ich zwischen ihnen durchzische. Noch ein oder zwei Flatspins, wo die Welle immer noch läuft will ich ja nix davon verschwenden, und dann sitz ich auf dem Sand in meinem Boot, warte dass der Lachkrampf abklingt, lehne mich zurück, blicke in den Himmel, bade in Adrenalin und kapier immer noch nicht, was da gerade passiert ist. Aber geil war's!

Versuch einer Objektivierung

  1. Der ganze Vorgang hat auf der Uhr eines unbeteiligten Beobachters sicher keine dreißig Sekunden gedauert. Für mich war's eine kleine Ewigkeit. Jammern nicht immer alle Leute rum, dass sie gern mehr Zeit hätten? Hier ist Eure Zeitmaschine, Leute. Einsteigen und losfahren, ein Kompressionsfaktor von mindestens 1:1000 und mehr ist möglich.

  2. Zeugen gibt's natürlich wie immer keine, da sich das meiste, was für mich interessant war, unter Wasser abgespielt hat. Vielleicht haben die drei Surfer das eine oder andere Ende von mir gesehen und sich den Rest denken können. Fotos gibt's keine und sie wären auch sehr unspektakulär, da man die meiste Zeit halt fast nichts von Boot und Paddler sieht. Ich selber beherrsche den sicheren Umgang mit der Kamera nicht so wirklich, während ich eingewickelt werde, aber man kann ja dran arbeiten...

  3. Abgesehen davon haben an diesem Tag sicherlich zwei dutzend andere Paddler, Kitesurfer und Surfer etliche andere Erlebnisse dieser Art gehabt. Und ich möchte nicht wissen, welche Stories Guido erzählen würde, wenn er das, was er parallel zu meinem Erlebnis in den richtig dicken Wellen gemacht hat, nicht fast schon als normal empfinden würde.

Aber spielt das alles eine Rolle? Letztenendes ist der persönliche Adrenalinpegel und Grinsefaktor das Maß aller Dinge. Wir hatten heute alle drei genug von beidem und sind rundum zufrieden.

Den Rest des Tages haben wir damit verbracht, auf den Booten in der Sonne zu liegen, den Sand aus der Ausrüstung zu waschen und die Salzkruste vom Gesicht zu kratzen. Prädikat: Wiederholung dringend empfehlenswert. - - -

Für wildwasserpaddelnde Strand-Neulinge eine kurze Strand-Gebrauchsanweisung

  •  Wenn man sich weit genug entfernt von etwaigen Rips aufhält und vorausgesetzt dass es kein wirklich starkes ablaufendes Wasser gibt, gilt die Grundregel, dass letztenendes alles auf den Strand gespült wird. Das ist ganz angenehm; Schwimmer brauchen bloß ihr Paddel festhalten und ihrem Boot hinterherlaufen. Vorsicht: Nie das Boot zwischen sich und die herankommenden Brecher geraten lassen, Gefahr der hydraulischen Steinigung, einer Variante der hydraulischen Kreuzigung (Details nachzulesen in "Nealy's lustige Wildwasserschule").

  •   Zwischen den Wellen gibt es fast immer genügend Pausen, in denen man in Ruhe rollen und sich neu orientieren kann. Diese Pausen sind länger als in vielen Stromschnellen in Wildflüssen, innerhalb derer man oft kaum Zeit hat zu rollen bevor's weitergeht. Wenn die Welle über einen weggelaufen ist, gibt's gut 20 Sekunden Schonzeit.

  •   Aber: Es gibt keine Kehrwasser, folglich kann man das Geschehen nicht anhalten, indem man sich hinter einem Stein versteckt. Wenn diese Schonzeit abgelaufen ist, kommt die nächste Welle unaufhaltbar! Wer die Atempause nicht zum Neusortieren genutzt hat, wird bestraft und darf nochmal von vorne anfangen.

  •   Mit jeder Welle, über die man hinweg nach draußen paddelt, weil sie einem zu groß zum surfen vorkommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Welle noch größer ist. Das Problem löst sich zumindest bei starker Brandung irgendwann aber von selbst, weil man so

früher oder später auf Wellen stößt, die "einen wieder reinsurfen", vorwärts, rückwärts,

seitwärts oder überkopf und ob man will oder nicht.

  •   Die großen Wellen weiter draußen können einen heftiger tief ins Wasser hauen, aber dafür

    *ist* das Wasser dort auch tief. Im Flachen kann man schon eher mal über den Sand kullern -

    immer schön kleinmachen!

  •   Einmal überkopf, genügt es oft, das Paddel vorsichtig auszustrecken und zur Rolleanzusetzen, und eh man sich's versieht hat die Rotation der Welle das Blatt gepackt und einen wieder hochgedreht. Nicht selten befindet man sich dann immer noch vor der Welle, wird wieder eingewickelt, und darf dann hinter der Welle nochmal ohne deren Hilfe rollen. Wer faul ist, kann auch einfach auf die Hilfe der nächsten Welle warten.

  • Aus allen obengenannten Gründen ist der Strand der Ideale Sparringspartner für's Rolltraining. Wer auch nur eine grobe Idee davon hat, wie eine Rolle funktioniert, kann hier auf fordernde aber relativ harmlose Weise schnell zu einer bombensicheren Rolle gelangen.

  • Augen auf: Nicht alles gute, aber Surfer und andere Paddler kommen von oben, Kitesurfer meist von rechts oder links, und alle sind sie schneller als angenehm im Falle eines Crashs. Besonders Kitesurfer können ihre Richtung spontan nur um ein paar Grad ändern, versucht ihnen früh deutlichzumachen, in welche Richtung Ihr Euch bewegen werdet. Wenn der Crash sich nicht vermeiden lässt: Schnellstmöglich kentern. Der Kitesurfer wird an Deinem Bootsboden seine Finnen verlieren, aber die sind viel einfacher zu ersetzen als Dein Hals. Das funktioniert auch bei allen anderen (kleinen) Wasserfahrzeugen.

  • Es ist eine gute Idee, das Wasser sowie seine eigene Position relativ zum Ufer permanent zu beobachten. Viele Strände haben einen oder mehrere "Rips", wo das Wasser, was mit den Wellen an anderer Stelle reinkommt, wieder raus aufs Meer läuft. Diese Rips können die Dimension eines richtigen Flusses annehmen, gegen den man nicht mehr gegenanpaddeln geschweige denn schwimmen kann. Normalerweise merkt man am besten, wo ein Rip ist, wenn man beobachtet ob man mit der Zeit parallel zum Ufer versetzt wird; üblicherweise driftet man zum Rip hin. Wenn man ihn erreicht hat, wird das Wasser "irgendwie anders", die Wellen sind stärker oder oft auch schwächer, man kann oft leichter rauspaddeln als anderswo. Wenn der Rip stark ist, ist das Wasser auch oft braun und die Wellenfronten brechen an dieser Stelle zuletzt, weil sie vom Rip plattgebügelt werden. Wenn vorhanden: Locals fragen.

  •  Aus einem Rip kommt man sowohl im Boot als auch als Schwimmer nur heraus, indem man seitlich herausschwimmt und mit den Wellen wieder reinsurft oder schwimmt. Wenn möglich, sobald man bemerkt dass man auf dem Weg nach draußen ist, irgendjemanden darauf aufmerksam machen, damit der notfalls Hilfe holen kann, wenn der Verlustige nicht bald wieder zurückkommt. Dann Nerven behalten und in jedem Fall Kräfte sparen, in den Pausen zwischen zwei Wellen langsam seitwärts bewegen und das so lange machen, bis einen die Wellen wieder reinbringen. Es macht Sinn, sich gegenseitig im Auge zu behalten und darauf aufmerksam zu machen, wenn der andere sich in Richtung Rip bewegt.

  •   Es ist auch eine gute Idee, ein Telefon am Strand oder sogar auf dem Wasser zu haben. Im Falle eines Falles ist ein Chopper einfach alles, und notfalls kann man ihn sogar selber rufen, wenn man mit dem Rip erstmal hinter die Brandungszone gekommen ist - und wenn das Telefon in der wasserdichten Verpackung bedienbar ist. Passende Telefonnummern vorher speichern! Sparen darf sich das nur, wer die Nerven hat, erstmal mit der Auskunft zu telefonieren, während das Festland am Horizont verschwindet.

  •  Für diverse Strände gibt es WebCams auf Surf-Homepages, die auch oft eine tägliche Beschreibung der Wellensituation updaten. So kann man sich vorher informieren, ob die Lage den eigenen Wünschen entspricht und sich die Anfahrt lohnt. In Neuseeland: www.surf.co.nz.

  •   Fressalien, Sonnenbrille und Sonnencreme nicht vergessen! Viel Spaß am Strand!

Matthias

 

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